PM: ADFC-Fahrradklimatest

Das Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung sieht das Ergebnis des ADFC-Fahrradklimatests als eine weitere Bestätigung dafür, dass die Göttinger Bevölkerung zunehmend unzufrieden mit der kommunalen Radverkehrspolitik ist. Die Hauptforderungen des Radentscheids nach Trennung von Fahrrad und Auto auf engen Hauptstraßen mit Mischverkehr müssen umgesetzt werden.

Sowohl in der Gruppe der ähnlich großen Städte als auch im Vergleich mit allen deutschen Großstädten fällt Göttingen im Ranking immer weiter zurück. Göttingen lag 2020 mit einer Schulnote von 3,27 noch auf Platz 1 im Ranking der Städte mit 100.000-200.000 Einwohnern und auf Platz 3 unter allen 82 Großstädten. Nun schafft es Göttingen mit der Note 3,61 und Platz 4 erstmals seit 2012 nicht mehr aufs Podium und mit Platz 11 auch erstmals seit 2012 nicht mehr unter die Top 10 der deutschen Großstädte. Die fahrradfreundlichsten Großstädte sind Münster, Freiburg (das Deutschlands ersten überdachten Radweg gebaut hat) und Karlsruhe.

“Wer nichts tut, wird nach unten durchgereicht. Eine Stadt, die nichts tut, wird von Städten, die sich sichtbar mehr Mühe geben, überholt. Städte wie Frankfurt oder Darmstadt haben nun erstmals bessere Noten als Göttingen – nicht umsonst wurden im Radentscheid vorbildliche Beispiele aus genau diesen Städten angeführt. Das Hauptproblem in Göttingen ist, dass die Verwaltungsspitze sich nach wie vor scheut, Verkehrsflächen, die bislang dem Auto vorbehalten sind, für einen sicheren Radverkehr zur Verfügung zu stellen, und Fahrrad und Auto zu trennen. Dringend notwendig sind Einbahnstraßensysteme wie zum Beispiel im System Friedländer Weg/Merkelstraße, damit auch Kinder und ältere Menschen zwischen den Stadtvierteln sicher Radfahren können”, so Francisco Welter-Schultes, Mitglied des Rates.

Die Noten im Test fallen generell sehr schlecht aus. Eine bessere Note als 3 erhält außer Münster (2,97) keine Großstadt in Deutschland. Unter den kleineren Städten liegen Tübingen (2,77) und Baunatal (2,53) auf den Spitzenplätzen.

Nicht nur der Platz im Ranking, auch die Noten werden in Göttingen dramatisch schlechter. Mit einer Ausnahme haben alle Städte, die 2022 unter den Top 10 der Großstädte lagen, 2024 eine bessere Bewertung erhalten als 2022. Göttingen ist die einzige Stadt unter den Top 10 von 2022, deren Note sich verschlechtert hat – von 3,51 auf 3,61.  Dieser Rückfall ist außergewöhnlich deutlich. Nur sechs Großstädte verschlechtern sich seit 2022 um eine Zehntel-Schulnote oder mehr (Berlin, Gütersloh, Heilbronn, Ludwigshafen, Trier). Die meisten Großstädte verbesserten sich. Insgesamt fielen die Schulnoten in allen Städten im Schnitt um 0,04 Noten besser aus als 2022. 

Die Noten auf die einzelnen Fragen zeigen, wo in Göttingen ganz besondere Probleme liegen. Bei der Frage nach den Fahrraddiebstählen erreicht Göttingen eine Note von 5,6. Unter den 2214 Werten aller 27 Fragen von 82 Großstädten gibt es nur einen einzigen Wert, der noch näher an der 6 liegt (Krefeld mit 5,7 bei Frage 19 nach der Oberfläche der Radwege). Besonders schlechte Werte werden seit Jahren für die Führung an Baustellen ermittelt – die Note liegt genau wie 2022 bei 4,5 und zeigt, dass sich nichts verändert hat. 16 Großstädte machen das anscheinend besser als Göttingen, darunter sogar Berlin. Münster als Spitzenreiter bekam die Note 3,2. Vielleicht kann Göttingens Baudezernat sich dort mal erkundigen, warum das so ist.

Besonders stark verschlechtert haben sich die Noten auf die Frage nach der “Fahrradförderung in jüngster Zeit” (von 2,8 in 2020 auf 3,5 in 2024) sowie die Frage zum Winterdienst (von 3,0 auf 3,7). Immer schlechtere Noten gibt es für die Radwege: Für das Fahren auf Radwegen und Radfahrstreifen sank die Bewertung in 4 Jahren (2020-2024) von 3,5 auf 4,0, ebenso bei der Bewertung der Oberflächen der Radwege. Bei der Breite der Radwege sank die Note von 3,7 auf 4,2.

Die besonders schlechte Bewertung für die jüngste Radverkehrspolitik der Stadt bestätigt noch einmal das Votum des Radentscheids und die Unzufriedenheit mit der städtischen Radverkehrspolitik. Die mangelnde Umsetzung des Radentscheids hat vermutlich nur wenig zu den schlechten Noten beigetragen, da der Test bereits im Herbst 2024 beendet war. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht so deutlich sichtbar wie jetzt, dass der Radentscheid in so gut wie allen Punkten im gesamten ersten Jahr nicht sichtbar umgesetzt wurde.


Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung Göttingen
– Der Vorstand –

PM: Jahrestag des Göttinger Bürgerentscheids – 09. Juni 2025

Jahrestag des Göttinger Bürgerentscheids: Das Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung fordert die Umsetzung der Vorgaben

Das Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung fordert, den Bürgerentscheid vom 09.06.2024 umzusetzen. Bislang wurde noch nichts sichtbar umgesetzt außer 150 m Protected Bike Lane an der Reinhäuser Landstraße. Das entspricht weniger als 1 % der Vorgaben, die mit dem Bürgerentscheid rechtlich bindend beschlossen wurden.

Deutlich sichtbar ist allerdings, dass die Verwaltung die wenigen im Rathaus vorhandenen Kapazitäten bei Radverkehrsplanung, Tiefbau und Verkehrsbehörden für ganz andere Radverkehrsprojekte eingesetzt hat, und zwar für solche, die die SPD-geführte Verwaltungsspitze bevorzugt und die nicht im Bürgerentscheid stehen. Einfach ausgedrückt: die Verwaltung verfolgte ihre eigenen Ziele und missachtete dabei den Bürgerentscheid.

Von den 34 Einzelvorgaben des Bürgerentscheids lassen sich 13 als unmittelbar umzusetzende Beschlüsse bezeichnen, davon sind etwa 10 quantifizierbar, ihre Auswertung lässt sich also in Zahlen oder Prozenten ausdrücken.

Die wichtigste Forderung im Radentscheid, die Trennung von Fahrrad und Auto auf stark befahrenen Durchgangsstraßen, wurde bislang nicht umgesetzt. Da die Göttinger Straßenräume zu eng sind, müssten hierzu, wie im Friedländer Weg und in der Merkelstraße (diese sind im Radentscheid 1 konkret als Beispiel aufgeführt), Einbahnstraßensysteme gebildet werden, um den Radverkehr sicher und getrennt vom Auto auf Protected Bike Lanes führen zu können.

Die Stadt hat zwar auf einer Länge von 150 m eine Protected Bike Lane an der Reinhäuser Landstraße in Höhe des Neuen Rathauses eingerichtet und damit in diesem Punkt 10 % der Vorgabe erfüllt, jährlich 1,5 km Protected Bike Lanes einzurichten. Dies ist jedoch die einzige Maßnahme, die dem Radentscheid Rechnung trägt.

Bei den 12 anderen auswertbaren Einzelvorgaben des Radentscheids wurden jeweils 0 % umgesetzt:

  • 0 km Trennung von Fahrrad und Auto bei Mischverkehr auf Hauptstraßen
  • 0 Maßnahmen zur Ertüchtigung bestehender Fahrradstraßen nach Bürgerentscheid-Vorgaben
  • 0 Ertüchtungen von Kreuzungen (Vorgabe im Bürgerentscheid: 2 pro Jahr)
  • 0 sogenannte Bettelampeln ausprogrammiert
  • 0 von 63 Fahrrad-Grünpfeilen installiert
  • 0 m Dooring-Zonen nach den Vorgaben des Bürgerentscheids abmarkiert
  • 0 Überdachungen von Fahrrad-Abstellanlagen angebracht
  • 0 Wegweisungen von Fahrrad-Nebenstrecken ausgewiesen (eine wurde beantragt, in Geismar)
  • 0 zusätzliche Fahrradbügel in der inneren Fußgängerzone installiert
  • Kein neuer Winterdienstplan wurde erstellt
  • An Baustellen keine gleichberechtigte Behandlung der Verkehrsarten
  • Keine Änderung der Prioritätensetzung beim Einsetzen von Personal der Stadtverwaltung

In der Gesamtansicht ergibt sich eine quasi komplette Nichtumsetzung des Bürgerentscheids ein Jahr nach dessen Verabschiedung. Das BfnS sieht darin einen Rechtsbruch. Bürgerentscheide sind für eine Verwaltung rechtlich bindend und müssen umgesetzt werden.

“Oberbürgermeisterin Broistedt (SPD) hat vor dem Abstimmungstermin massiv Wahlkampf gegen den Radentscheid gemacht, sie hat der Initiatorin sogar das Plakatieren im öffentlichen Raum verboten – und hinterher lässt sie ihn nicht umsetzen. Das ist zwar konsequent und verständlich, aber ich halte es für rechtswidrig. Aus gutem Grund muss eine Verwaltungsspitze sich im Wahlkampf neutral verhalten – denn sie ist hinterher verpflichtet, den Mehrheitsbeschluss umzusetzen, egal wie er ausgeht. Genau das macht sie nun nicht, sie missachtet also einen rechtsverbindlichen Bürgerentscheid. Ohne Konsequenzen dürfte das auf Dauer nicht bleiben”, so Francisco Welter-Schultes, Mitglied des Rates.

Broistedt hatte im Wahlkampf zudem mit falschen Zahlen zur Kostenschätzung Stimmung gemacht und behauptet, Ausgaben in den Bereichen Soziales, Kultur, Sport und Feuerwehr müssten gekürzt werden – und nun hat sie bislang überhaupt kein Geld ausgegeben für die Umsetzung des Radentscheids. Die 150 m Protected Bike Lane wurden im Rahmen einer Baustelle sowieso eingerichtet, sie wird hinterher nur verstetigt. Über 30 Millionen Euro hat die Bevölkerung für die Trennung von Fahrrad und Auto und andere Vorhaben bis 2030 bewilligt.

Am schwerwiegendsten ist der letzte Vorgabenpunkt aus der Liste. Die Verwaltung hat den Großteil der für Radverkehrsplanung zur Verfügung stehenden Kapazitäten in Maßnahmen eingesetzt, die nicht dem Bürgerentscheid entsprachen. Sie kann nicht behaupten, für die Umsetzung des Bürgerentscheids habe kein Personal zur Verfügung gestanden.

Bis zum 17.12.2024 wurden mit genau diesem Personal über 400 Stellungnahmen zum umstrittenen Gartetalradweg abgearbeitet – in dieser Zeit hätte schon längst mit der Umsetzung des Bürgerentscheids begonnen werden müssen.

Für Fahrradstraßen (Hospitalstraße, Bühlstraße) wurde im Herbst 2024 ein Fördermittelantrag gestellt und Planungen eingeleitet. Fahrradstraßen sind nicht Teil des Bürgerentscheids, dessen Ziel die Verbesserung der Verkehrssicherheit von Kindern und älteren Menschen war. Kinder müssen auf einer Fahrradstraße, die verkehrsrechtlich eine ganz normale Kfz-Straße darstellt, auf dem Gehweg fahren. Sie hilft Familien mit Kindern überhaupt nicht.

Die Abmarkierung blauer Dooring-Zonen am Schildweg war ein teurer Fehlversuch, der den Radentscheid-Vorgaben in den entscheidenden Punkten zur Farbe und Breite nicht entsprach (weiß und 0,75 m breit wie in Frankfurt). Für problematisch hält das BfnS auch Aussagen der Verwaltung aus den letzten Monaten, bestimmte Beschlusspunkte des Bürgerentscheids aus politischen Gründen gar nicht umsetzen zu wollen. Hierzu zählen die Abschaffung der politisch höchst umstrittenen Bettelampeln und die vom Ortsrat Geismar geforderte Ausschilderung einer Fahrrad-Nebenstrecke in die Innenstadt.

Das BfnS ist der Ansicht, dass die SPD-geführte Verwaltungsspitze in diesen Punkten keinen politischen Handlungsspielraum hat und die Beschlüsse auch dann umsetzen muss, wenn sie politisch eine andere Abwägung von Interessen und Prioritäten bevorzugen würde.

Das BfnS fordert die Umsetzung des Bürgerentscheids in all seinen Punkten.


Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung Göttingen
– Der Vorstand –